Sonntag, 28. Oktober 2012

Gewalt in der Schule

Hier soll es nicht um körperliche Gewalt gehen; die spielt ja in der Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen heutzutage zum Glück gar keine Rolle mehr. Es gibt aber eine andere Art von Gewalt, die leider nicht nur alltäglich ist, sondern auch Teil dessen, was als gesellschaftlich akzeptabel oder gar erwünscht gilt.

Grob gesagt kann alles als Gewalt bezeichnet werden, was die Würde und die Integrität einer Person verletzt. Das beinhaltet viele Kommunikationsweisen, die im Alltag, besonders aber im schulischen, omnipräsent sind. Es gehört ja zum Repertoire einer Lehrperson, SchülerInnen wegen allen möglichen Kleinigkeiten möglichst runterzuputzen, und dabei wird zum Teil sehr tief in die unterste Schublade gegriffen.

Einige Tage nach dem Vortrag von Jesper Juul war ich bei einem anderen, von einer schwedischen Dame, die als Lehrerin die gewaltfreie Kommunikation von Marshall Rosenberg (und ihn persönlich) kennengelernt und nach einigen Jahren, in denen sie selbige im Unterricht eingesetzt hat, eine gewaltfreie Schule mitgegründet hat. Der Vortrag war spannend, witzig und sehr inspirierend, obwohl sie selbst sagt, im Regelschulsystem ist gfK leider wirklich nicht einfach anzuwenden.

GfK soll hier auch nicht das Thema sein, wer sich dafür interessiert, findet im Netz genügend bessere Quellen. Hier geht es stattdessen um eine persönliche Erfahrung, die ich zwischen den beiden Vorträgen in der Schule machen musste (und zwar wirklich musste, weil die Anwesenheit verpflichtend war): wir hatten nämlich eine Disziplinarkonferenz. Ich habe so etwas zum ersten Mal erlebt, und vermutlich geht es auch ganz anders. Ich würde mir wünschen, dass es auch Schulen gibt, wo so etwas menschlicher abläuft, befürchte aber, dass eher noch das andere Extrem die Regel ist.

Es ging um zwei Schüler, die ich davor nie bewusst wahrgenommen, geschweige denn unterrichtet habe. Sie haben zweifelsohne etwas sehr Dummes angestellt und hatten Glück, dass ein Lehrer die Polizei davon abhalten konnte, tätig zu werden. So gesehen sind sie ja quasi ohne Konsequenzen davongekommen, und das hat offenbar nicht sein dürfen, also kratze die Schule all ihre Möglichkeiten zusammen, um sie im Endeffekt doch noch einmal ohne allzu konkrete Konsequenzen davonkommen zu lassen.

Soweit so gut, Schulen haben offenbar nicht wirklich irgendwelche Mittel, SchülerInnen zu bestrafen (was ja in meinen Augen gut ist, aber die breite Öffentlichkeit würde sich eher das Gegenteil wünschen). Was aber Schulen, sprich DirektorInnen und LehrerInnen besonders gut können, ist das oben beschriebene Erniedrigen, das sie in langen Dienstjahren zur Perfektion trainiert haben, und das ich selbst im erwähnten Fall nicht angebracht fand.

Wenn ich meine diesbezüglichen Gedanken artikuliere, kommt immer die Gegenfrage: "Wie hätte man das Problem sonst lösen sollen?". Nun ja, die Frage scheint berechtigt, führt aber am Kern des wirklichen Problems vorbei. Erstens hat man das "Problem" so nicht gelöst. Das Unrecht wurde nicht wieder gutgemacht, das Unrechtsbewusstsein der beiden Schüler nach Ansicht der meisten Anwesenden nicht aktiviert, ja nicht einmal die "Strafe" hat wirklich strafenden Charakter. Es waren die Einschüchterungsversuche eines zahnlosen Löwen, der weiß, dass er harmlos ist, und deswegen auf Erniedrigung setzt.

Das eigentliche Problem ist, dass es offiziell keinen anderen Weg zu geben scheint, mit solchen Situationen umzugehen. Dabei zeigen sowohl Jesper Juul als auch die gewaltfreie Kommunikation Wege auf, und es gibt vermutlich noch genug andere. Wir bilden Peer-Mediatoren aus, können aber als angeblich reife, jedenfalls studierte Erwachsene selbst nicht viel anders mit Konflikten umgehen, als es unsere eigenen LehrerInnen vor Jahrzehnten getan haben. Und vermutlich wäre mir die Würdelosigkeit der besagten Konferenz nicht einmal aufgefallen, wenn ich nicht gerade durch meine persönliche Geschichte diesbezüglich sensibilisiert gewesen wäre.

Natürlich nützt es wenig (und schaut nach außen auch mehr als komisch aus), wenn nur in einer Krisensituation auf "Kuschelpädagogik" gesetzt und Konflikte gelöst werden, während es die restliche Zeit immer nach dem selben Muster an Belohnung und Erniedrigung abläuft. Wünschenswert wäre vielmehr eine generelle Änderung der Schulkultur, wie schon im vorigen Post beschrieben: weg von Macht und Kontrolle, hin zu Gleichwürdigkeit, Vertrauen und Respekt. Das ist keine Garantie, dass keine Vorfälle passieren, die ein Eingreifen notwendig machen, aber es gibt sehr gute Gründe dafür, es trotzdem zu versuchen:

- Wenn ein Mensch eine Befindlichkeit in einer von seiner Umwelt als unerwünscht betrachteten Verhaltensweise äußert und dafür bestraft wird, verschwindet dadurch vielleicht (vielleicht!) die Verhaltensweise, aber nicht seine Befindlichkeit. Sie wird andere Mittel und Wege finden, an die Oberfläche zu gelangen. Das erklärt den klassischen Teufelskreis nach unten, den sogenannte "Problemschüler" oft durchmachen. Durch Strafen ist noch keiner geläutert worden, aber manche bekommen zum Glück außerhalb des Systems, zB. in der Gestalt einer netten Lehrperson oder sonst irgendeines Erwachsenen, die Zuwendung, die ihnen hilft, sich selbst über ihre destruktiven Verhaltensweisen hinwegzusetzen. Das sollte die Norm sein, nicht die Ausnahme.

- "Gewalt erzeugt Gegengewalt", sangen schon die Ärzte. Das gilt auch und ganz besonders für verbale Gewalt. Die meisten, die Gewalt erfahren, üben als Reaktion darauf selbst Gewalt aus: an ihrer Familie, an Freunden oder Klassenkameraden, viele auch an sich selbst. Das kann man nicht vollständig unterbinden, aber ich halte es für eine Schande, dass diese Gewaltspirale so oft von LehrerInnen gestartet wird.

- Kinder lernen nicht in erster Linie daraus, was wir ihnen sagen, sondern wie wir selbst handeln. Diese einfache Erkenntnis ist leider den meisten Pädagogen nicht geläufig, und die Konsequenzen daraus sehen wir täglich. Es entbehrt nicht einer gewissen grotesken Ironie, dass die Begründung dafür, die Schüler bei der erwähnten Konferenz zu erniedrigen und zu "bestrafen", darin bestand, §2 des Schulorganisationsgesetzes* zu zitieren. Ich wage zu behaupten, dass sie dadurch nicht in ihren sittlichen und sozialen Werten bestärkt worden sind.

- Schule funktioniert immer weniger, obwohl immer mehr daran herumgeschraubt wird. Die übliche Haltung aller Akteure ist: "Ich versuche ja eh, nett zu sein, aber ich werde früher oder später dazu gezwungen, Gewalt auszuüben." - eine Haltung, die, wie Juul sagt, für das Misslingen der Beziehung verantwortlich ist. Jemand muss die Verantwortung für das Schulklima übernehmen, und das dürfen nicht die Kinder sein.

Schulen MÜSSEN beginnen, gewaltfrei zu werden. Das ist die einzige Möglichkeit, über kurz oder lang eine gewaltfreie Gesellschaft zu erschaffen. All jenen, die dem widersprechen, gilt mein Mitgefühl für all die Gewalt, die sie in ihrem Leben erleiden mussten - es ist allerdings definitiv keine Lösung, sie immer weiterzureichen.



* §2 (1) "Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.

Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewußten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken."

Sonntag, 14. Oktober 2012

Beziehungskompetenz in der Schule

Ich gelte offiziell als fortbildungsunfreudig, weil mich die Angebote der verschiedenen pädagogischen Hochschulen in den seltensten Fällen interessieren. Dafür habe ich all die Jahre viel Zeit und Geld investiert, um mich so fortzubilden, wie es mir sinnvoll erschien, was wiederum den Arbeitgeber nicht zu interessieren scheint. Auch heute war ich bei einer Veranstaltung, die ich zufällig gefunden und privat gezahlt habe, dabei hatte sie durchaus Relevanz für den Schulalltag aller LehrerInnen.

Es war ein Vortrag von Jesper Juul himself mit dem titelgebenden Titel und anschließender Fragerunde. Wer viel von ihm gelesen hat, für den wird der Inhalt keine größeren Überraschungen parat gehabt haben, was allerdings offenbar nicht auf die Mehrheit der Anwesenden zutraf.

Ich möchte hier nur in aller Kürze auf die Quintessenz des Vortrags eingehen. Beziehungskompetenz heißt für Juul, die (volle!) Verantwortung für die Qualität der Beziehung zwischen sich selbst und seinem Gegenüber zu übernehmen. Für LehrerInnen heißt das, selbst zu entscheiden, wie sie mit ihren SchülerInnen umgehen wollen, und dann auch dazu zu stehen.

Das bedeutet nicht, dass ab sofort in jeder Klasse freundliche und gelöste Stimmung herrschen muss, denn die Lehrperson darf sich selbst auch für Macht und Kontrolle entscheiden, aber sie hat die volle Verantwortung dafür. Es gilt also nicht, sich als Opfer zu sehen und zu sagen, übertriebene Strenge wäre nur eine Reaktion auf das schlimme Verhalten der SchülerInnen. Das ist laut Juul kontraproduktiv und eine wichtige Ursache dafür, dass die Dinge dann nicht so laufen, wie sie sollten.

Dieses an sich einfache Konzept schien leider bei den grob geschätzt 500 LehrerInnen, PädagogInnen und ähnlich vorbelasteten Menschen nicht nur auf Verständnis zu stoßen. In der Pause belauschte Gesprächfetzen ("Ich bin also verantwortlich dafür, wie sich die Kinder verhalten? Also muss ich sie ja doch kontrollieren... aber er hat sich ja eigentlich gegen Kontrolle ausgesprochen... ich verstehe es nicht." oder "Ja, ich bin bereit, die volle Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu übernehmen, aber nur wenn es die Kinder auch tun.") erweckten den Eindruck, LehrerInnen würden nicht ganz so genau zuhören, wie sie es von ihren SchülerInnen wünschen. Und rund ein Drittel des Publikums kam von der halbstündigen Pause 10 Minuten zu spät zurück, was ich hier unkommentiert stehenlassen möchte.

In der Fragerunde gab es einige spannende Themen, ich möchte mich hier aber nur auf eine Frage konzentrieren, die vermutlich viele Anwesende auch formuliert hätten, und die sich auf den Kern des von Juul ausgeführten Konzepts konzentriert. Die Frage war: "Reicht es nicht, 50% der Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu übernehmen, und die anderen 50% bei den SchülerInnen zu lassen?"

Die Antwort ist: NEIN. Juul selbst hat als Argument angeführt, dass er dutzende Male erlebt hat, dass in einer schwierigen Klassensituation nichts anderes hilft: weder gemeinsam aufgestellte Regeln, noch hinzugezogene Sozialarbeiter, Therapeuten oder Supervisoren, auch keine Elterngespräche usw., aber wenn die Lehrperson gelernt hat, die volle Verantwortung zu übernehmen, geht es plötzlich.

Ich möchte aus eigenem Antrieb folgendes hinzufügen: wenn die Frage ist, ob ein studierter und fortgebildeter Erwachsener, der sein Leben selbst steuert, seinen Job selbst ausgesucht hat und dafür bezahlt wird, oder ein Minderjähriger, der in einer bestimmten familiären Konstellation gefangen ist, gezwungenermaßen in eine Schule geht und zu einer Klassengemeinschaft gehören muss, die Verantwortung für die Qualität der Beziehung tragen, dann muss es selbstverständlich der Erwachsene sein. Das in Frage zu stellen ist in meinen Augen ein sehr deutliches Zeichen von Unreife - und Schule braucht, wenn sie irgendwie funktionieren soll, reife Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Wieder ein Grund mehr, wieso ich nicht mehr dazugehören will. Österreichs LehrerInnen leisten sehr viel, leben aber, wie Juul die Schule bezeichnet hat, in einem "schlecht funktionierenden Museum", und sind nicht einmal dann, wenn eine klare, einfache und erfolgversprechende Hilfestellung vor ihnen steht, flexibel und offen genug, diese anzunehmen. Es bleibt zu wünschen, dass es einige doch tun.


P.S.: Einige andere angesprochene Themen waren:

- Kinder werden nicht von der Erziehung erzogen -> Erziehung ist Zeitverschwendung, positives Beispiel viel wichtiger. Erziehung (zu Gehorsam) hat funktioniert, solange sie auf Gewalt basiert hat, heute zum Glück nicht mehr.

- Autorität gibt es heute nicht mehr automatisch mit der Position, es gibt sie kurzfristig geschenkt, laut Juul für LehrerInnen max. 3-4 Wochen. Danach müssen sie sich ihre Autorität verdienen. Gilt auch für Respekt.

- Paradigmenwechsel von Macht und Kontrolle hin zu Kontakt und Respekt. Kontrolle braucht viel mehr Kraft und bringt viel weniger als Eigenverantwortung. Laut Juul machen in dänischen Schulen, wo sie freiwillig sind, 86% die Hausübungen. Mehr als hierzulande?

- Es besteht ein existenzieller Konflikt zwischen Integrität und Kooperation. Kinder tendieren zu Kooperation, auch wenn sie dabei ihre Integrität aufgeben müssen. Z.B. kommen immerhin weit über 90% aller SchülerInnen pünktlich zur Schule. Man sollte ihnen regelmäßig und ehrlich dafür danken und die restlichen paar fragen, welche Verbesserungsvorschläge sie hätten, damit die Schule von ihrer Unzufriedenheit lernen kann.

- Eine Frage aus dem Publikum: wie sieht es mit ("natürlichen") Konsequenzen statt Strafen aus? Juul sagt: Regeln machen Kriminalität, und wie man die Konsequenzen auch nennt, es sind noch immer Strafen, selbst wenn demokratisch ausgemacht und abgesegnet. "Schwierige" Kinder (sprich Kinder, die es eh schon nicht leicht haben und deswegen hin und wieder Regeln brechen) würden so sogar zweimal bestraft werden.


P.P.S.: Obwohl er es nicht offen ausgesprochen hat, scheint Jesper Juul kein großer Fan der Institution Schule zu sein. Er sprach von einer Zwangsanstalt, in der ein europäisches Kind durchschnittlich 26.000 Stunden verbringt, und hat angeregt, die ganze Schulproblematik drastisch zu entschärfen, indem man die Schulpflicht in ein Recht auf Schule umformuliert.

Donnerstag, 11. Oktober 2012

Selbstbestimmtes Lernen

Ich sehe einem Baby dabei zu, wie es zum ersten mal krabbelt, und lerne dabei selbst sehr viel. Ich erkenne, dass Babys genau dann krabbeln lernen, wenn ihre körperlichen und kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben sind. Das passiert nicht plötzlich, sondern in einem allmählichen Prozess, in dessen Verlauf sie langsam eine Vorstellung davon gewinnen, dass Krabbeln überhaupt möglich ist, und dass ihre Kraft, Körperbeherrschung und Koordinationsfähigkeit dafür ausreicht.

Wenn es soweit ist, bringen sie sich aus einer mühsam erarbeiteten stabilen Position in eine ungewisse, instabile, indem sie eine Hand oder auch ein Bein vom Boden heben. Es kann leicht sein, dass sie dabei das eine oder andere Mal umfallen, aber das wird sie sicher nicht daran hindern, es wieder zu versuchen. Ob sie nun eine Vorstellung davon haben, dass sie die Hand etwas weiter weg wieder absetzen müssen, oder sie zufällig dort landet, um den durch den verschobenen Körperschwerpunkt eingeleiteten Fall zu stoppen, wage ich nicht zu beurteilen. Fakt ist, dass es früher oder später klappt und langsam zur Selbstverständlichkeit wird.

Man kann einem Baby nicht das Krabbeln beibringen. Es wird sich nicht früher hochstemmen können, als es das tut, weil schlicht und einfach die Kraft fehlt. Es wird nicht verstehen, wenn man ihm sagt, es müsse die Gliedmaßen in einer bestimmten Reihenfolge bewegen, und ehrlich gesagt wären wohl die meisten von uns damit überfordert, es überhaupt richtig vorzustellen und anzusagen. Es gibt Dinge, die der Körper besser weiß als der kognitive Teil des Gehirns.

Was das mit Schule zu tun hat? Sehr viel sogar. Beziehungsweise leider nicht viel, obwohl es wünschenswert wäre.

Ein anderes Kind, etwa eineinhalb, lässt Steinchen in ein Kanalgitter fallen. Das sieht für den oberflächlichen Beobachter unspektakulär aus, offenbart aber bei näherem Hinschauen erstaunliche Fähigkeiten. Das Kind geht dabei zwar nicht absolut wissenschaftlich vor, eine gewisse Systematik lässt sich aber durchaus erkennen. Es probiert verschiedene Fallhöhen aus, widmet sich Steinen, die nicht durch das Gitter fallen, immer wieder, um sie als letzte Möglichkeit mit den Fingern durch geschicktes Drehen hindurchzubugsieren.

Kinder können, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, manchmal Stunden mit solchen banal wirkenden Tätigkeiten verbringen. Sie tun das, weil ihre Fähigkeiten dabei genau den Anforderungen entsprechen und sie währenddessen minütlich etwas Neues erfahren und ihre eigenen Grenzen allmählich erweitern. Man nennt es gemeinhin auch Lernen. Der beschriebene Zustand wird von Psychologen "Flow" genannt und wird gern auch bei LehrerInnenfortbildungen bemüht, wenn es um Lernerfolg geht. Dass man ihn aber nicht so auf Knopfdruck hervorrufen kann, wird gern unter den Tisch gekehrt.

Die beiden beschriebenen Momentaufnahmen sind beispielhaft für alle selbst initiierten Lernprozesse. Sie haben gemein, dass das Kind dabei den Zeitpunkt und die Dauer der Tätigkeit selbst wählt, die Anforderungen selbst setzt bzw. den eigenen Fähigkeiten anpasst, eine Relevanz der Handlung für sein Sein herstellt, sich Frustration und potentiellem Misserfolg aussetzt und die Motivation beim Tun entstehen lässt. Alle Kinder machen das, und es gibt eigentlich kaum eine (oder gar keine?) kindliche Tätigkeit, die nicht gleichzeitig Lernen ist. Kinder haben den Drang, die Welt auf diese Art zu entdecken und sich anzueignen.

Wir treiben ihnen diesen Drang systematisch aus, um sie dann mit sehr viel Aufwand dazu bringen zu wollen, Lernen nach unseren Vorstellungen und Regeln zu praktizieren. Wir wundern uns vermutlich gar nicht, wenn sich ein Kind, das mit fünf Jahren diverse Dinosaurier identifizieren und mit dem griechischen Namen benennen konnte, mit fünfzehn plagt, Lateinvokabeln zu lernen. Wenn wir uns wundern würden, kämen wir vielleicht darauf, wieso es so ist.

Das Krabbeln kann man einem Baby nicht beibringen. Beim Sitzen und besonders beim Gehen greifen viele Eltern aber schon ein, im Glauben, damit die Entwicklung ihrer Kinder zu beschleunigen. Sie nehmen in Kauf, dass der kindliche Körper, der für diese Belastungen noch nicht weit genug entwickelt ist, Haltungsschäden entwickelt, und laufen selbst monatelang gebückt durch die Gegend, während sie behaupten, das Kind würde es "einfordern", dass man mit ihm an der Hand geht, weil es das allein noch nicht kann. Andere Eltern (oder sind es die selben?) übernehmen nach zwei fruchtlosen Versuchen des Babys, die richtige Figur durch das richtige Loch zu schieben, lieber selbst das Spielzeug, und bringen es damit um ein Erfolgs- und Lernerlebnis. Geben Sie es zu, auch Sie haben das schon im Bekanntenkreis gesehen.

Viele Kinder wissen und können verblüffend viel, wenn sie in die Schule kommen. Das meiste davon haben sie sich selbstbestimmt angeeignet, ganz ohne jemals gelernt zu haben, wie sie zu lernen haben. Dann lernen sie es, und sie können es nicht mehr. Fremdbestimmtes Lernen kommt meistens zur falschen Zeit und ist damit über- oder unterfordernd, hat oft kaum Relevanz, dafür aber umso mehr Frustrationspotential, und bringt außer der Person des Lernenden und dem Gegenstand des Lernens noch die Person des Lehrenden ins Spiel - und damit eine zwischenmenschliche Konfliktkomponente, die vorher nicht vorhanden war. Geben Sie es zu, auch das haben Sie schon oft genug erlebt.

Auch in der Schule ist selbst initiiertes Lernen möglich, gehört aber zu den Ausnahmen. Im Unterricht tritt es extrem selten auf, eher in Pausen oder Supplierstunden. Natürliche Feinde des selbstbestimmten Lernens sind Vorgaben, Kontrollen, Aufgabenstellungen, Anleitungen und dergleichen. Spielen (selbst mit dem Handy), Rätsel, unerwartete Hindernisse oder überraschende Situationen können aber Ausgangspunkte solcher Erlebnisse werden. In der Schule sind sie selten, im täglichen Leben zahlreich vorhanden. Ein klarer Punkt gegen die Schule.

Montag, 8. Oktober 2012

Einleitung

Ich ging mit sechs Jahren in die Schule und komme nun mit 36 heraus. Dazwischen lagen meine eigene Schulzeit, mein Studium und dann, mit einem Jahr Unterbrechung, in dem ich aber immerhin einen Lehrgang aus mehr oder weniger privatem Interesse besucht habe, meine zweite Schulzeit. Ich unterrichte nun einige Jahre und gehe jetzt in Karenz, was ich wiederum als Möglichkeit sehe, endlich von der Schule wegzukommen. Aus diesem momentan noch bestehenden Anstellungsverhältnis heraus möchte ich diesen Blog anonym betreiben.

Im Gegensatz zu meinem geschätzten und persönlich nicht bekannten bloggenden Kollegen von http://teacher.twoday.net/ und dem "härtesten Schulkritiker Österreichs" Andreas Salcher möchte ich aber den Slogan "Nie mehr Schule" nicht für irgendwelche kosmetischen Änderungen am bestehenden System missbrauchen, sondern wenn, dann in aller Konsequenz verwenden: nie mehr Schule. Nicht für mich und nicht für meine Kinder, so zumindest meine Einstellung, die auf jahrelanger Grübelei über Schule, Lernen und Unterricht basiert. Dass es auch anders geht, ist zur Genüge bekannt, grundsätzliche Kritik an der Idee ist hier also nicht gefragt. Hier soll es um meine persönlichen Erfahrungen und Überlegungen gehen.

Man verstehe mich nicht falsch, ich bewundere alle, die gerne LehrerInnen sind, und wünsche allen enthusiastischen JunglehrerInnen die besten Erfahrungen. Meine sind nun mal so, dass ich nicht nur an meiner Schulkarriere, sondern auch am Prinzip der Schule zweifle, und diese Zweifel teile ich mit vielen Menschen. Es tut gut, sie, wenngleich anonym, offen aussprechen bzw. niederschreiben zu dürfen, und falls sie jemanden zum nachdenken anregen, freue ich mich sehr.

Die täglichen Absurditäten kommen, solange ich sie noch miterleben darf, ebenso zur Sprache wie einige theoretische Überlegungen und praktische Beobachtungen zum freien Lernen. Da ich noch nicht wissen kann, wohin die Reise geht und wie sie genau abläuft, kann ich über diesen Blog auch nicht viel mehr sagen - wir werden es gemeinsam sehen. Ich freue mich über Kommentare und besonders natürlich über ähnliche Schicksale und wünsche all meinen KollegInnen den Mut, ihren Beruf zu hinterfragen und zu überdenken und gegebenenfalls die Konsequenzen zu ziehen.

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