Selbstbestimmtes Lernen
Ich sehe einem Baby dabei zu, wie es zum ersten mal krabbelt, und lerne dabei selbst sehr viel. Ich erkenne, dass Babys genau dann krabbeln lernen, wenn ihre körperlichen und kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben sind. Das passiert nicht plötzlich, sondern in einem allmählichen Prozess, in dessen Verlauf sie langsam eine Vorstellung davon gewinnen, dass Krabbeln überhaupt möglich ist, und dass ihre Kraft, Körperbeherrschung und Koordinationsfähigkeit dafür ausreicht.
Wenn es soweit ist, bringen sie sich aus einer mühsam erarbeiteten stabilen Position in eine ungewisse, instabile, indem sie eine Hand oder auch ein Bein vom Boden heben. Es kann leicht sein, dass sie dabei das eine oder andere Mal umfallen, aber das wird sie sicher nicht daran hindern, es wieder zu versuchen. Ob sie nun eine Vorstellung davon haben, dass sie die Hand etwas weiter weg wieder absetzen müssen, oder sie zufällig dort landet, um den durch den verschobenen Körperschwerpunkt eingeleiteten Fall zu stoppen, wage ich nicht zu beurteilen. Fakt ist, dass es früher oder später klappt und langsam zur Selbstverständlichkeit wird.
Man kann einem Baby nicht das Krabbeln beibringen. Es wird sich nicht früher hochstemmen können, als es das tut, weil schlicht und einfach die Kraft fehlt. Es wird nicht verstehen, wenn man ihm sagt, es müsse die Gliedmaßen in einer bestimmten Reihenfolge bewegen, und ehrlich gesagt wären wohl die meisten von uns damit überfordert, es überhaupt richtig vorzustellen und anzusagen. Es gibt Dinge, die der Körper besser weiß als der kognitive Teil des Gehirns.
Was das mit Schule zu tun hat? Sehr viel sogar. Beziehungsweise leider nicht viel, obwohl es wünschenswert wäre.
Ein anderes Kind, etwa eineinhalb, lässt Steinchen in ein Kanalgitter fallen. Das sieht für den oberflächlichen Beobachter unspektakulär aus, offenbart aber bei näherem Hinschauen erstaunliche Fähigkeiten. Das Kind geht dabei zwar nicht absolut wissenschaftlich vor, eine gewisse Systematik lässt sich aber durchaus erkennen. Es probiert verschiedene Fallhöhen aus, widmet sich Steinen, die nicht durch das Gitter fallen, immer wieder, um sie als letzte Möglichkeit mit den Fingern durch geschicktes Drehen hindurchzubugsieren.
Kinder können, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, manchmal Stunden mit solchen banal wirkenden Tätigkeiten verbringen. Sie tun das, weil ihre Fähigkeiten dabei genau den Anforderungen entsprechen und sie währenddessen minütlich etwas Neues erfahren und ihre eigenen Grenzen allmählich erweitern. Man nennt es gemeinhin auch Lernen. Der beschriebene Zustand wird von Psychologen "Flow" genannt und wird gern auch bei LehrerInnenfortbildungen bemüht, wenn es um Lernerfolg geht. Dass man ihn aber nicht so auf Knopfdruck hervorrufen kann, wird gern unter den Tisch gekehrt.
Die beiden beschriebenen Momentaufnahmen sind beispielhaft für alle selbst initiierten Lernprozesse. Sie haben gemein, dass das Kind dabei den Zeitpunkt und die Dauer der Tätigkeit selbst wählt, die Anforderungen selbst setzt bzw. den eigenen Fähigkeiten anpasst, eine Relevanz der Handlung für sein Sein herstellt, sich Frustration und potentiellem Misserfolg aussetzt und die Motivation beim Tun entstehen lässt. Alle Kinder machen das, und es gibt eigentlich kaum eine (oder gar keine?) kindliche Tätigkeit, die nicht gleichzeitig Lernen ist. Kinder haben den Drang, die Welt auf diese Art zu entdecken und sich anzueignen.
Wir treiben ihnen diesen Drang systematisch aus, um sie dann mit sehr viel Aufwand dazu bringen zu wollen, Lernen nach unseren Vorstellungen und Regeln zu praktizieren. Wir wundern uns vermutlich gar nicht, wenn sich ein Kind, das mit fünf Jahren diverse Dinosaurier identifizieren und mit dem griechischen Namen benennen konnte, mit fünfzehn plagt, Lateinvokabeln zu lernen. Wenn wir uns wundern würden, kämen wir vielleicht darauf, wieso es so ist.
Das Krabbeln kann man einem Baby nicht beibringen. Beim Sitzen und besonders beim Gehen greifen viele Eltern aber schon ein, im Glauben, damit die Entwicklung ihrer Kinder zu beschleunigen. Sie nehmen in Kauf, dass der kindliche Körper, der für diese Belastungen noch nicht weit genug entwickelt ist, Haltungsschäden entwickelt, und laufen selbst monatelang gebückt durch die Gegend, während sie behaupten, das Kind würde es "einfordern", dass man mit ihm an der Hand geht, weil es das allein noch nicht kann. Andere Eltern (oder sind es die selben?) übernehmen nach zwei fruchtlosen Versuchen des Babys, die richtige Figur durch das richtige Loch zu schieben, lieber selbst das Spielzeug, und bringen es damit um ein Erfolgs- und Lernerlebnis. Geben Sie es zu, auch Sie haben das schon im Bekanntenkreis gesehen.
Viele Kinder wissen und können verblüffend viel, wenn sie in die Schule kommen. Das meiste davon haben sie sich selbstbestimmt angeeignet, ganz ohne jemals gelernt zu haben, wie sie zu lernen haben. Dann lernen sie es, und sie können es nicht mehr. Fremdbestimmtes Lernen kommt meistens zur falschen Zeit und ist damit über- oder unterfordernd, hat oft kaum Relevanz, dafür aber umso mehr Frustrationspotential, und bringt außer der Person des Lernenden und dem Gegenstand des Lernens noch die Person des Lehrenden ins Spiel - und damit eine zwischenmenschliche Konfliktkomponente, die vorher nicht vorhanden war. Geben Sie es zu, auch das haben Sie schon oft genug erlebt.
Auch in der Schule ist selbst initiiertes Lernen möglich, gehört aber zu den Ausnahmen. Im Unterricht tritt es extrem selten auf, eher in Pausen oder Supplierstunden. Natürliche Feinde des selbstbestimmten Lernens sind Vorgaben, Kontrollen, Aufgabenstellungen, Anleitungen und dergleichen. Spielen (selbst mit dem Handy), Rätsel, unerwartete Hindernisse oder überraschende Situationen können aber Ausgangspunkte solcher Erlebnisse werden. In der Schule sind sie selten, im täglichen Leben zahlreich vorhanden. Ein klarer Punkt gegen die Schule.
Wenn es soweit ist, bringen sie sich aus einer mühsam erarbeiteten stabilen Position in eine ungewisse, instabile, indem sie eine Hand oder auch ein Bein vom Boden heben. Es kann leicht sein, dass sie dabei das eine oder andere Mal umfallen, aber das wird sie sicher nicht daran hindern, es wieder zu versuchen. Ob sie nun eine Vorstellung davon haben, dass sie die Hand etwas weiter weg wieder absetzen müssen, oder sie zufällig dort landet, um den durch den verschobenen Körperschwerpunkt eingeleiteten Fall zu stoppen, wage ich nicht zu beurteilen. Fakt ist, dass es früher oder später klappt und langsam zur Selbstverständlichkeit wird.
Man kann einem Baby nicht das Krabbeln beibringen. Es wird sich nicht früher hochstemmen können, als es das tut, weil schlicht und einfach die Kraft fehlt. Es wird nicht verstehen, wenn man ihm sagt, es müsse die Gliedmaßen in einer bestimmten Reihenfolge bewegen, und ehrlich gesagt wären wohl die meisten von uns damit überfordert, es überhaupt richtig vorzustellen und anzusagen. Es gibt Dinge, die der Körper besser weiß als der kognitive Teil des Gehirns.
Was das mit Schule zu tun hat? Sehr viel sogar. Beziehungsweise leider nicht viel, obwohl es wünschenswert wäre.
Ein anderes Kind, etwa eineinhalb, lässt Steinchen in ein Kanalgitter fallen. Das sieht für den oberflächlichen Beobachter unspektakulär aus, offenbart aber bei näherem Hinschauen erstaunliche Fähigkeiten. Das Kind geht dabei zwar nicht absolut wissenschaftlich vor, eine gewisse Systematik lässt sich aber durchaus erkennen. Es probiert verschiedene Fallhöhen aus, widmet sich Steinen, die nicht durch das Gitter fallen, immer wieder, um sie als letzte Möglichkeit mit den Fingern durch geschicktes Drehen hindurchzubugsieren.
Kinder können, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, manchmal Stunden mit solchen banal wirkenden Tätigkeiten verbringen. Sie tun das, weil ihre Fähigkeiten dabei genau den Anforderungen entsprechen und sie währenddessen minütlich etwas Neues erfahren und ihre eigenen Grenzen allmählich erweitern. Man nennt es gemeinhin auch Lernen. Der beschriebene Zustand wird von Psychologen "Flow" genannt und wird gern auch bei LehrerInnenfortbildungen bemüht, wenn es um Lernerfolg geht. Dass man ihn aber nicht so auf Knopfdruck hervorrufen kann, wird gern unter den Tisch gekehrt.
Die beiden beschriebenen Momentaufnahmen sind beispielhaft für alle selbst initiierten Lernprozesse. Sie haben gemein, dass das Kind dabei den Zeitpunkt und die Dauer der Tätigkeit selbst wählt, die Anforderungen selbst setzt bzw. den eigenen Fähigkeiten anpasst, eine Relevanz der Handlung für sein Sein herstellt, sich Frustration und potentiellem Misserfolg aussetzt und die Motivation beim Tun entstehen lässt. Alle Kinder machen das, und es gibt eigentlich kaum eine (oder gar keine?) kindliche Tätigkeit, die nicht gleichzeitig Lernen ist. Kinder haben den Drang, die Welt auf diese Art zu entdecken und sich anzueignen.
Wir treiben ihnen diesen Drang systematisch aus, um sie dann mit sehr viel Aufwand dazu bringen zu wollen, Lernen nach unseren Vorstellungen und Regeln zu praktizieren. Wir wundern uns vermutlich gar nicht, wenn sich ein Kind, das mit fünf Jahren diverse Dinosaurier identifizieren und mit dem griechischen Namen benennen konnte, mit fünfzehn plagt, Lateinvokabeln zu lernen. Wenn wir uns wundern würden, kämen wir vielleicht darauf, wieso es so ist.
Das Krabbeln kann man einem Baby nicht beibringen. Beim Sitzen und besonders beim Gehen greifen viele Eltern aber schon ein, im Glauben, damit die Entwicklung ihrer Kinder zu beschleunigen. Sie nehmen in Kauf, dass der kindliche Körper, der für diese Belastungen noch nicht weit genug entwickelt ist, Haltungsschäden entwickelt, und laufen selbst monatelang gebückt durch die Gegend, während sie behaupten, das Kind würde es "einfordern", dass man mit ihm an der Hand geht, weil es das allein noch nicht kann. Andere Eltern (oder sind es die selben?) übernehmen nach zwei fruchtlosen Versuchen des Babys, die richtige Figur durch das richtige Loch zu schieben, lieber selbst das Spielzeug, und bringen es damit um ein Erfolgs- und Lernerlebnis. Geben Sie es zu, auch Sie haben das schon im Bekanntenkreis gesehen.
Viele Kinder wissen und können verblüffend viel, wenn sie in die Schule kommen. Das meiste davon haben sie sich selbstbestimmt angeeignet, ganz ohne jemals gelernt zu haben, wie sie zu lernen haben. Dann lernen sie es, und sie können es nicht mehr. Fremdbestimmtes Lernen kommt meistens zur falschen Zeit und ist damit über- oder unterfordernd, hat oft kaum Relevanz, dafür aber umso mehr Frustrationspotential, und bringt außer der Person des Lernenden und dem Gegenstand des Lernens noch die Person des Lehrenden ins Spiel - und damit eine zwischenmenschliche Konfliktkomponente, die vorher nicht vorhanden war. Geben Sie es zu, auch das haben Sie schon oft genug erlebt.
Auch in der Schule ist selbst initiiertes Lernen möglich, gehört aber zu den Ausnahmen. Im Unterricht tritt es extrem selten auf, eher in Pausen oder Supplierstunden. Natürliche Feinde des selbstbestimmten Lernens sind Vorgaben, Kontrollen, Aufgabenstellungen, Anleitungen und dergleichen. Spielen (selbst mit dem Handy), Rätsel, unerwartete Hindernisse oder überraschende Situationen können aber Ausgangspunkte solcher Erlebnisse werden. In der Schule sind sie selten, im täglichen Leben zahlreich vorhanden. Ein klarer Punkt gegen die Schule.
Schulfrei - 11. Okt, 23:54