Sonntag, 14. Oktober 2012

Beziehungskompetenz in der Schule

Ich gelte offiziell als fortbildungsunfreudig, weil mich die Angebote der verschiedenen pädagogischen Hochschulen in den seltensten Fällen interessieren. Dafür habe ich all die Jahre viel Zeit und Geld investiert, um mich so fortzubilden, wie es mir sinnvoll erschien, was wiederum den Arbeitgeber nicht zu interessieren scheint. Auch heute war ich bei einer Veranstaltung, die ich zufällig gefunden und privat gezahlt habe, dabei hatte sie durchaus Relevanz für den Schulalltag aller LehrerInnen.

Es war ein Vortrag von Jesper Juul himself mit dem titelgebenden Titel und anschließender Fragerunde. Wer viel von ihm gelesen hat, für den wird der Inhalt keine größeren Überraschungen parat gehabt haben, was allerdings offenbar nicht auf die Mehrheit der Anwesenden zutraf.

Ich möchte hier nur in aller Kürze auf die Quintessenz des Vortrags eingehen. Beziehungskompetenz heißt für Juul, die (volle!) Verantwortung für die Qualität der Beziehung zwischen sich selbst und seinem Gegenüber zu übernehmen. Für LehrerInnen heißt das, selbst zu entscheiden, wie sie mit ihren SchülerInnen umgehen wollen, und dann auch dazu zu stehen.

Das bedeutet nicht, dass ab sofort in jeder Klasse freundliche und gelöste Stimmung herrschen muss, denn die Lehrperson darf sich selbst auch für Macht und Kontrolle entscheiden, aber sie hat die volle Verantwortung dafür. Es gilt also nicht, sich als Opfer zu sehen und zu sagen, übertriebene Strenge wäre nur eine Reaktion auf das schlimme Verhalten der SchülerInnen. Das ist laut Juul kontraproduktiv und eine wichtige Ursache dafür, dass die Dinge dann nicht so laufen, wie sie sollten.

Dieses an sich einfache Konzept schien leider bei den grob geschätzt 500 LehrerInnen, PädagogInnen und ähnlich vorbelasteten Menschen nicht nur auf Verständnis zu stoßen. In der Pause belauschte Gesprächfetzen ("Ich bin also verantwortlich dafür, wie sich die Kinder verhalten? Also muss ich sie ja doch kontrollieren... aber er hat sich ja eigentlich gegen Kontrolle ausgesprochen... ich verstehe es nicht." oder "Ja, ich bin bereit, die volle Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu übernehmen, aber nur wenn es die Kinder auch tun.") erweckten den Eindruck, LehrerInnen würden nicht ganz so genau zuhören, wie sie es von ihren SchülerInnen wünschen. Und rund ein Drittel des Publikums kam von der halbstündigen Pause 10 Minuten zu spät zurück, was ich hier unkommentiert stehenlassen möchte.

In der Fragerunde gab es einige spannende Themen, ich möchte mich hier aber nur auf eine Frage konzentrieren, die vermutlich viele Anwesende auch formuliert hätten, und die sich auf den Kern des von Juul ausgeführten Konzepts konzentriert. Die Frage war: "Reicht es nicht, 50% der Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu übernehmen, und die anderen 50% bei den SchülerInnen zu lassen?"

Die Antwort ist: NEIN. Juul selbst hat als Argument angeführt, dass er dutzende Male erlebt hat, dass in einer schwierigen Klassensituation nichts anderes hilft: weder gemeinsam aufgestellte Regeln, noch hinzugezogene Sozialarbeiter, Therapeuten oder Supervisoren, auch keine Elterngespräche usw., aber wenn die Lehrperson gelernt hat, die volle Verantwortung zu übernehmen, geht es plötzlich.

Ich möchte aus eigenem Antrieb folgendes hinzufügen: wenn die Frage ist, ob ein studierter und fortgebildeter Erwachsener, der sein Leben selbst steuert, seinen Job selbst ausgesucht hat und dafür bezahlt wird, oder ein Minderjähriger, der in einer bestimmten familiären Konstellation gefangen ist, gezwungenermaßen in eine Schule geht und zu einer Klassengemeinschaft gehören muss, die Verantwortung für die Qualität der Beziehung tragen, dann muss es selbstverständlich der Erwachsene sein. Das in Frage zu stellen ist in meinen Augen ein sehr deutliches Zeichen von Unreife - und Schule braucht, wenn sie irgendwie funktionieren soll, reife Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Wieder ein Grund mehr, wieso ich nicht mehr dazugehören will. Österreichs LehrerInnen leisten sehr viel, leben aber, wie Juul die Schule bezeichnet hat, in einem "schlecht funktionierenden Museum", und sind nicht einmal dann, wenn eine klare, einfache und erfolgversprechende Hilfestellung vor ihnen steht, flexibel und offen genug, diese anzunehmen. Es bleibt zu wünschen, dass es einige doch tun.


P.S.: Einige andere angesprochene Themen waren:

- Kinder werden nicht von der Erziehung erzogen -> Erziehung ist Zeitverschwendung, positives Beispiel viel wichtiger. Erziehung (zu Gehorsam) hat funktioniert, solange sie auf Gewalt basiert hat, heute zum Glück nicht mehr.

- Autorität gibt es heute nicht mehr automatisch mit der Position, es gibt sie kurzfristig geschenkt, laut Juul für LehrerInnen max. 3-4 Wochen. Danach müssen sie sich ihre Autorität verdienen. Gilt auch für Respekt.

- Paradigmenwechsel von Macht und Kontrolle hin zu Kontakt und Respekt. Kontrolle braucht viel mehr Kraft und bringt viel weniger als Eigenverantwortung. Laut Juul machen in dänischen Schulen, wo sie freiwillig sind, 86% die Hausübungen. Mehr als hierzulande?

- Es besteht ein existenzieller Konflikt zwischen Integrität und Kooperation. Kinder tendieren zu Kooperation, auch wenn sie dabei ihre Integrität aufgeben müssen. Z.B. kommen immerhin weit über 90% aller SchülerInnen pünktlich zur Schule. Man sollte ihnen regelmäßig und ehrlich dafür danken und die restlichen paar fragen, welche Verbesserungsvorschläge sie hätten, damit die Schule von ihrer Unzufriedenheit lernen kann.

- Eine Frage aus dem Publikum: wie sieht es mit ("natürlichen") Konsequenzen statt Strafen aus? Juul sagt: Regeln machen Kriminalität, und wie man die Konsequenzen auch nennt, es sind noch immer Strafen, selbst wenn demokratisch ausgemacht und abgesegnet. "Schwierige" Kinder (sprich Kinder, die es eh schon nicht leicht haben und deswegen hin und wieder Regeln brechen) würden so sogar zweimal bestraft werden.


P.P.S.: Obwohl er es nicht offen ausgesprochen hat, scheint Jesper Juul kein großer Fan der Institution Schule zu sein. Er sprach von einer Zwangsanstalt, in der ein europäisches Kind durchschnittlich 26.000 Stunden verbringt, und hat angeregt, die ganze Schulproblematik drastisch zu entschärfen, indem man die Schulpflicht in ein Recht auf Schule umformuliert.

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